Interview mit Prof Dr. Thomas Klie

„Ehrenamtliche machen der Kirche deutlich, wie die Welt vor Ort aussieht.“

Ihre besondere gesellschaftliche Relevanz wird die evangelische Kirche nur aufrechterhalten, wenn sie sich in Zukunft nicht zu stark auf sich selbst konzentriert, meint Dr. Thomas Klie, Professor und Vorsitzender der Sachverständigenkommission des Zweiten Engagementberichtes der Bundesregierung. Gerade in den Gemeinden könne sie jedoch der Ort werden, an dem Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen in Werte und Glaubenszusammenhänge eingebunden handeln können.


Seit gut einem Jahr werden wir mit einem neuen Typus des engagierten Bürgers konfrontiert: In Pegida-Demonstrationen marschieren Zehntausende auf, um gegen Zuwanderung und Islamisierung zu demonstrieren. Ist das eine Form des zivilgesellschaftlichen Engagements?

Zumindest sind es Menschen, die sich in einer überzeugend demokratisch legitimierten Weise für ihre Interessen einsetzen und öffentlich ihre Weltsicht darstellen. Solche Willens- und Meinungsäußerungen kann und sollte man in einer Demokratie nicht zensieren. Allerdings darf man die Zivilgesellschaft nicht ausschließlich deskriptiv begreifen, sondern muss ihr ein normatives Gesicht geben: Sie steht für eine gute Gesellschaft, im internationalen Kontext, und damit auch für Toleranz und Offenheit, für Fragen des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit. Dafür steht Pegida nicht, auch wenn ihre Ausdrucksformen in einer Demokratie legitim sind.

Was sagt Pegida als Bürgerbewegung denn über den Zustand unserer Zivilgesellschaft aus?

Die Zivilgesellschaft ist immer in einen diskursiven Kontext eingebunden, sie ändert ihr Gesicht, ihre Themen und ihre Befassungen. Wie in anderen europäischen Ländern auch, stellen wir in Deutschland derzeit eine zunehmende gesellschaftliche Komplexität fest, die bei vielen Menschen Unsicherheit und Zukunftsängste auslöst. Am Beispiel von Pegida kann man beobachten, wie diese Unsicherheit zu einer Rückbesinnung auf einfache Antworten und einfache Gesellschaftsmodelle führt. Leider verbindet sich das mit chauvinistischen und rechtspopulistischen Positionen. Die Interpretationen, die hier angeboten werden, entsprechen dem psychologischen Bedürfnis nach einfachen Antworten und dem Schutz der eigenen kleinen Welt.

Die Kirche ist in Deutschland einer der wichtigsten Akteure im Bereich des Ehrenamtes. Wie verhalten sich Kirche und Zivilgesellschaft zueinander?

Die Kirche ist vor allem da ein starker Akteur in der Zivilgesellschaft, wo sie aus ihrer Werteorientierung heraus Bürgerinnen und Bürgern Räume anbietet, in denen sich gesellschaftliche Mitverantwortung leben lässt. Umgekehrt sollte Kirche Ehrenamtliche innerhalb der eigenen demokratischen Strukturen als diejenigen verstehen, die deutlich machen, wie Welt vor Ort aussieht. Wenn man die Rollenangebote der Kirche nimmt, dann haben diese jedoch häufig eine dominante Binnenorientierung und Gottesdienstfixierung: Wo man ehrenamtliche Prädikanten sucht, um den Gottesdienst aufrechterhalten zu können oder Engagierte für die eigenen Seniorenkreise, unternimmt man noch nichts im Sinne des eigenen Auftrages in der Welt. Kirche ist und bleibt eine hierarchische Organisation, die sich der Ehrenamtlichen eben auch bedient, um ihre eigenen Strukturen aufrechtzuerhalten. In dieser starken Binnenorientierung muss sie achtgeben, dass sie nicht den Bezug zur Welt verliert.

Unsere Initiative trägt den Titel „Zukunft Ehrenamt“. Wo sehen Sie das kirchliche Ehrenamt in 20 Jahren?

Zunächst sehe ich hier recht deutliche demografische Trends, für die es kein Gegenrezept geben wird: Kirche altert schneller als die Gesellschaft, und sie wird nach „unten“ hin an Substanz verlieren. Mit dieser Alterung muss sie sich ebenso sehr auseinandersetzen wie mit einer gesellschaftlichen Rolle, die nicht mehr auf der gleichen breiten Basis fußt, wie das früher der Fall war. Was das Ehrenamt selbst angeht, so wird es in einer pluralen Gesellschaft mit christlichem Grund bunter und vielfältiger werden. Dank wachsender Bildung werden wir in Zukunft sicher genügend Engagierte haben. Allerdings ist Kirche gut beraten, sich nicht zu stark mit dem eigenen Begriff von Ehrenamt zu identifizieren und auf theologischen Konzepten zu beharren. Stattdessen sollte man Gemeinde wieder viel stärker aus einem subsidiären Verständnis heraus gestalten: als einen Ort, an dem Menschen in Werte und Glaubenszusammenhänge eingebunden handeln können. Kirche kann denjenigen eine Heimat geben, die sich vor Ort beheimaten wollen, und sie kann sich in einer Welt, in der die Frage des Füreinander-Sorgens zu einer Überlebensfrage der Gemeinden und örtlichen Zusammenhänge wird, als sorgende Gemeinschaft bewähren.

Die Landschaft des zivilgesellschaftlichen Engagements hat sich in den letzten Jahren stark verändert. So sind etwa Unternehmen als neue Player hinzugekommen, die mit Corporate-Social-Responsibility-Strategien gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen. Welche Konsequenzen hat das für das kirchliche Ehrenamt?

Auf der lokalen Ebene waren Unternehmen und Kirche schon immer sehr gut miteinander vernetzt – wenn man sich etwa die Zusammensetzung von Kirchenvorständen anschaut, wird man hier immer auch sozial engagierte Unternehmer finden. Der Ortsbezug unternehmerischen Engagements ist angesichts der Globalisierung zunehmend von ortsübergreifenden Konzepten der Corporate Social Responsibility und des Corporate Citizenship überlagert worden. Dennoch sehe ich in der geteilten Verantwortung für die Zukunft des gemeinsamen Standortes große Kooperationspotenziale zwischen Kirchen und Unternehmen. Kirche kann sich hier auf eine Frage zurückbeziehen, für die sie früher einmal gestanden hat: Wie gelingt uns die Bewirtschaftung unseres Lebens vor Ort?

Wie sieht es denn mit den Ehrenamtlichen aus, um die sich alle diese Player bemühen? Man hört hier immer wieder den Begriff eines „Marktes“, in dem es zur Konkurrenz um die knappe Ressource der Ehrenamtlichen kommt. Passt dieses Bild?

Sprache ist hier sehr verräterisch. Wer in diesem Zusammenhang von Konkurrenz spricht, versteht unter Engagierten meist die Gebildeten, die sich reibungslos in die institutionellen Strukturen integrieren lassen. Gerade innerhalb der Kirche haben wir es sehr häufig mit sogenanntem „Bonding“-Engagement zu tun, das heißt, die Kirchenmitglieder handeln für sich selbst. Aber Kirche ist eben auch ein Ort für diejenigen, die in prekären Lebenssituationen stecken. Empirisch betrachtet sind niedrige Bildung, geringer sozialer Status und geringes Einkommen die wesentlichen Hürden für öffentlich sichtbare Engagementformen. Auch die Größe des persönlichen Netzwerkes ist empirisch betrachtet ein Indikator für Engagement: Wer sozial isoliert ist, ist oft auch von Engagement ausgeschlossen. Hier liegen also große Potenziale für eine kirchliche Ehrenamtsstrategie.

In der Sache würde Ihnen sicher jede Christin und jeder Christ zustimmen: Kirche sollte sozial Benachteiligte integrieren. Aber wie kann das konkret gelingen?

Da, wo sie selbst Zielgruppen identifiziert, die sie als bedürftig ansieht, schafft Kirche bereits Beeindruckendes: Etwa in der Arbeit für Flüchtlinge, für Menschen mit Behinderung, Demente oder auch für Hochbetagte. Für die Zukunft sehe ich eine besondere Aufgabe im parochialen Bezug von Kirche: etwa in Dörfern und Gemeinden, die strukturell von prekären Lebensverhältnissen geprägt sind. Hier ist kann Kirche den Menschen Räume anbieten, in denen sie Bedingungen guten Lebens mitgestalten können.

Wir haben eingangs schon über die Herausforderungen einer Zuwanderungsgesellschaft gesprochen. Pegida ist ja zum Glück nur ein Aspekt – ein anderer sind die vielen freiwilligen Helfer, die Ende des Jahre 2015 die Züge mit Flüchtlingen begrüßt haben …

Ja, das ist richtig: Zuerst ist da eine beeindruckende Bereitschaft der Bevölkerung, sich zu öffnen und den Begriff der „Willkommenskultur“ mit Leben zu füllen. Und letztlich hat diese Herausforderung auch zu einer Innovation des kirchlichen Ehrenamtes geführt: In der spontanen Reaktion auf geflüchtete Menschen sind neue Formen des Engagements entstanden. Es übernehmen plötzlich Akteure Verantwortung, die bisher im kirchlichen Ehrenamt noch keine Rolle spielten. Auch wenn etwa in dörflichen Gegenden Strukturen aufbrechen und Nachbarschaften über das gemeinsame Thema der Geflüchteten wieder zueinanderfinden, spielt die Kirche eine besondere Rolle: Sie kann eine Kultur vorleben, in der sich diese Herausforderung als positiv wahrnehmen lässt, sie bietet in theologischer Hinsicht Bilder, die Ängste reduzieren, und sie hat in ihrer langen Tradition dem Rechtspopulismus etwas sehr Wertvolles entgegenzusetzen.

Inwiefern dürfen wir denn in Zukunft verstärkt mit dem Engagement von geflüchteten Menschen rechnen?

Wir haben das ja schon in starkem Maße. Nehmen Sie als Beispiel einen Alawiten aus Syrien, der für seine Gemeinde ein Pergament gestaltet und es als Geschenk überreicht. Als man versucht, ihn dafür zu entlohnen, bricht er in Tränen aus, weil er sich missverstanden fühlt. Das Ehrenamt ist eben ein Ausdruck der Würde und des Wunsches, sich am Gemeinwesen zu beteiligen. Es wäre eine Menschenrechtsverletzung, diese Menschen vom Engagement fernzuhalten, man würde sie letztlich auf eine Rolle als Bittsteller und Adressaten von Ordnungsverfügungen oder Erlaubnissen reduzieren. Ohne freiwilliges Engagement wird es in Deutschland keine Integration geben!

Interview: Sebastian Pranz

Zur Person:

Prof. Dr. jur. habil. Thomas Klie, geboren 1955 in Hamburg, ist Sozial- und Rechtswissenschaftler sowie Professor für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Er gilt als einer der führenden Sozialexperten in Deutschland und ist der Vorsitzende der Sachverständigenkommission des Zweiten Engagementberichtes der Bundesregierung, der zeigen soll, welchen Beitrag freiwilliges und bürgerschaftliches Engagement zur Bewältigung des demografischen Wandels leistet und wie es auf kommunaler Ebene gestärkt und gefördert werden kann, ohne dabei als „Lückenbüßer“ leerer öffentlicher Kassen instrumentalisiert zu werden.

Thesen zum Dossier

Wie wurde das Thema während der 13 Monate diskutiert? Hier können Sie die gesammelten Thesen zum Dossier nachlesen und die Rezeption nachverfolgen.